Von Haubenmeisen und Holzbienen
Text: Jasmin Jansen
Fotos: Jasmin Jansen und Christine Dobler Gross
Totholz
In unseren Wildegärten haben wir einen abgestorbenen Kirschbaumstamm bewusst stehen gelassen und konnten beobachten, wie das Leben in ihm weitergeht.
«Das ist doch kein Garten», ist ein Satz, der von Betrachtern der Wildegärten immer mal wieder fällt. Die Wildegärten sind grosse waldartige wilde Gärten, welche Teil der Trittsteingärten (ein NimS-Projekt) sind. Und tatsächlich sucht man in unserem Zusammenschluss von Trittsteingärten vergeblich nach rechtwinklig angelegten Gemüsebeeten, akkurat geschnittenem Rasen oder prächtigen Blumenrabatten mit grossen bunten Blütenmeeren, die einem sofort ins Auge stechen. Stattdessen gibt es hier grosse alte schattenspendende Bäume, schöne ausladende Wildhecken, Boden voller Moos und überall kleine feine Blütenmeere einheimischer Wildpflanzen, die das Trittsteingärtnerherz erfreuen und Nahrung für viele Insekten bieten. Auch jener Ort fehlt, von dem man heutzutage manchmal das Gefühl hat, er sei für viele der eigentliche Grund, sich überhaupt einen Garten zuzulegen: Es gibt keine Grillstelle – dafür aber viele Kleinstrukturen aus Totholz.
Eine besonders wertvolle Totholz-Kleinstruktur in unseren Trittsteingärten ist ein alter, bereits vor Jahren abgestorbener, aufrechtstehender Kirschbaumstamm. Stehende Totholzstämme sind ein eigener kleiner Mikrokosmos voller Leben. Nach ihrem Absterben, beginnen Pilze und Kleinstorganismen das Holz zu zersetzen. Käfer und andere Insekten beginnen für ihre Brut Gänge in das Holz zu graben, die dann später gerne von Wildbienen übernommen und ausgebaut werden, unter anderem von der Blauen Holzbiene, der grössten Wildbiene der Schweiz. Ist das Holz morsch genug, ernten Hornissen und andere Papierbaukünstler unter den Insekten mit laut hörbaren «Knurps-Knurps»-Geräuschen die wertvollen Fasern für ihre Nester. Spechte freuen sich über das reiche Nahrungsangebot und hinterlassen grössere Hohlräume, in denen sich dann gerne Baumhummeln einnisten oder kleine Singvögel ihre Nester bauen. Tatsächlich sind die weitverbreiteten Nisthilfen für Insekten und Nistkästen für Vögel nichts anderes als der Versuch, künstlich die Lebensräume zu ersetzen, die durch den Mangel an alten Bäumen und Totholzstämmen heutzutage vor allem im Siedungsraum fehlen.
Stamm eines abgestorbenen Kirschbaums in den Wildegärten.
©Christine Dobler Gross
In Totholzstämmen baut unter anderem der Zangenbock seine Nester.
©Christine Dobler Gross
Auch der Rothalsbock legt seine Eier hier ab.
©Christine Dobler Gross
Viele Wildbienen nisten ebenfalls in Totholzstämmen.
©Christine Dobler Gross
…wie zum Beispiel die grösste Wildbiene der Schweiz, die Blaue Holzbiene.
©Christine Dobler Gross
Auch Baumhummeln nisten in Totholzstämmen.
©Christine Dobler Gross
Ganz besonders erfreulich war es, als diesen Sommer ein Haubenmeisenpärchen beschloss, sein Nest in diesen alten Kirschstamm zu bauen. Haubenmeisen suchen sich für ihre Brut Hohlräume in alten oder toten Baumstämmen und bauen diese selbst zu Bruthöhlen aus, wenn das Holz morsch genug ist. Der schöne alte Stamm hat ihnen offenbar gut zugesagt, mit guter Bausubstanz, einer freundlichen Südost-Ausrichtung und grossen Bäumen in der Nachbarschaft, die genug Nahrung für die Aufzucht der Jungen und zudem ein angenehmes Klima gegen zu starke Mittagshitze bieten.
Bald schon begann es im Inneren des Baumes lautstark zu piepsen, und die Meiseneltern waren emsig damit beschäftigt, ihren Nachwuchs mit Nahrung zu versorgen. «Dass nur mal keine der Nachbarskatzen auf dumme Ideen kommt», dachten sich die Trittsteingärtnerinnen des Öfteren, als sie im Schatten der umstehenden Bäume sassen und den Haubenmeisen zusahen, wenn sie in etwa 3m Höhe die Nestöffnung im Stamm anflogen, im Inneren verschwanden und kurz darauf wieder auftauchten und davonflogen, um mehr Nahrung zu sammeln.
Nicht nur der Totholzstamm selbst..
©Christine Dobler Gross
…sondern auch die Umgebung bieten gute Bedingungen für die Haubenmeisen.
©Christine Dobler Gross
Tatsächlich waren es dann nicht die Nachbarskatzen, sondern die Nachbarn selbst, die das Nest zerstörten. Nur durch puren Zufall wurde eine der Trittsteingärtnerinnen selbst Zeuge, wie zwei Anwohner den Totholzstamm umstürzten und begannen, den oberen Teil mit Fusstritten zu bearbeiten, um Stücke herauszubrechen, während drei junge Meisen laut piepsend aus dem Stamm plumpsten und in drei Richtungen auseinanderflatterten. Zur Rede gestellt waren sich die Herren keiner Schuld bewusst; man habe hier schon immer Holz fürs Grillieren geholt, dies sei mit der Pächterin abgesprochen, und so ein morscher Stamm stelle sowieso ein offensichtliches Risiko dar, eigentlich müsse man ihnen dankbar sein. Ein Vogelnest war keines zu sehen, sonst hätten sie ja nie…etc. Unter Murren stellten die Herren den Stamm notdürftig wieder auf, indem sie ihn an einen benachbarten Baum lehnten. Einige sofort herbeigerufene Helfer machten sich im nun eingesetzten Regen auf die Suche nach den Jungtieren, die man – so die Hoffnung – vielleicht ins Nest zurücksetzen könnte. Das einzige gesichtete Jungtier war zwar immer noch panisch, aber bereits so weit entwickelt, dass es flink davonschwirrte und in gut 1,5 Metern Höhe in der nächsten Hecke verschwand. Es steht zu vermuten, dass die Jungtiere unmittelbar vor dem Ausfliegen standen und wir hoffen, dass zumindest ein Teil von ihnen von den Eltern gefunden wurde und überlebt hat, von Hecken und hohem Gras geschützt und im tagelangen Regen von den Nachbarskatzen vielleicht unbehelligt.
Die inzwischen informierte Pächterin des betroffenen Gartenteils beschloss die Sache auf sich beruhen zu lassen und ein ungünstiges Missverständnis als Grund zu akzeptieren. Sie zog die Erlaubnis zum Holz holen und überhaupt zum Betreten des Waldgartens den Nachbarn gegenüber jedoch komplett zurück.
Als das wochenlange Regenwetter wieder etwas freundlicher wurde, haben Helfer von NimS den Stamm aus seiner nur angelehnten Position wieder gerade aufgestellt, den zerstörten Fussbereich mit Steinen fixiert und alles mit Eisenstangen und Seilen gesichert. Die Überraschung folgte auf den Fuss. Kaum zwei Schritte zurückgegangen, um das Werk zu betrachten und abzuschätzen, ob die Ausrichtung so passt, tauchte das Haubenmeisenpärchen auf und begann den Stamm eingehend zu inspizieren. Fasziniert beobachteten die Helfer, wie die beiden Haubenmeisen im Inneren des Stamms verschwanden, ihn von aussen umrundeten und jede Öffnung genau inspizierten, möglicherweise auf der Suche nach einem Platz für eine Zweitbrut, die bei Haubenmeisen häufig vorkommt. Leider bot der zwischenzeitlich dem Starkregen ausgesetzte Stamm, dessen oberer Bereich ja nun weggebrochen war, offenbar keinen geeigneten Ort für eine neue Brut.
Beim Aufrichten wurde zunächst die Position des Stammes austariert…
©Jasmin Jansen
…dann der gebrochene untere Teil mit Steinen fixiert…
©Jasmin Jansen
…und schliesslich alles mit Eisenstangen und Seilen gesichert.
©Jasmin Jansen
Kaum länger als die beiden Haubenmeisen brauchten die Insekten und mit ihnen der Specht, um den Stamm wieder zu erobern. Sei es die Struktur, die durch den Regen noch etwas morscher geworden und durch den Sturz von einigen feinen Rissen durchzogen ist, oder sei es die Tatsache, dass nun keine hungrigen Jungvögel mehr dort versorgt werden müssen, Insekten aller Formen und Grössen haben sich sofort regelrecht auf den Stamm gestürzt. Es ist grossartig zu beobachten, wie jeden Tag neue winzige Käfergänge entstehen, kleinere Gänge von neuen Benutzern ausgebaut werden oder vom Specht einfach mal etwas brachialer eine neue grössere Öffnung angelegt wird, wenn die ersehnte Nahrung etwas weiter im Inneren des Stammes sitzt.
Und die Haubenmeisen? Sie haben sich seit jenem Tag am Stamm leider nicht mehr blicken lassen, zumindest nicht, wenn beobachtende Menschenaugen in der Nähe waren. Aber im Spätsommer wurde in einem weiteren Trittsteingarten, der nur zwei Querstrassen entfernt liegt, zum allerersten Mal eine Haubenmeise am Vogelbad gesichtet. Vielleicht ist es ja eine der Kirschstamm-Haubenmeisen. Wer weiss, vielleicht sogar eines der Jungtiere, dass sich darüber freut, dass die Trittsteingärten im Quartier immer enger zusammenwachsen.
Hier waren offensichtlich fleissige Holzarbeiter am Werk.
©Jasmin Jansen
Frass- und Brutgänge in allen möglichen Grössen zeigen: Da ist Leben im Totholz.
©Jasmin Jansen
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